Als Kunsthistorikerin ist mir die altbiblische Erzählung von „Samson und Dalila“ als Bildthema unter dem Stichwort „Weibermacht“ oder „Weiberlist“ bekannt. Darunter sind Geschichten oder Begebenheiten zu verstehen, die von der verführerischen Macht der Frauen zeugen. Selbst stärkste Männer sind vor ihr nicht gefeit. In Bildkünsten und Literatur erfreute sich das Motiv der Weiberlist bis tief ins 16. Jh. großer Beliebtheit, und nahm dabei Frauenfiguren aus der antiken Mythologie oder dem Alten Testament auf. Während im Mittelalter der Triumph der Minne und die erotische Macht der Frau vornehmlich in der höfischen Dichtung zu finden war und meist als Triumph der Liebe gewertet, die Frau als verehrungswürdig angesehen wurde, wandelte sich das Thema um 1500 hin zum Triumph der hinterlistigen, sündigen Frau, durch deren erotische Macht der Mann zum geschädigten Opfer und seiner Kraft, seiner Intelligenz oder gar seines Lebens beraubt wird.[
Dalila und Samson
Die Figur der Dalila entstammt dem Alten Testament, und von ihr wird nicht viel mehr erzählt, als dass Samson, der als Nasiräer das hebräische Volk aus der Sklaverei des Volkes der Philister führen soll, sie begehrt. Die Philister bestechen Dalila, um durch sie an das Geheimnis der übermenschlichen Kräfte von Samson zu gelangen. Sie entlockt es ihm schließlich: nur durch das Scheren seines Haupthaares könne er bezwungen werden. Daraufhin lässt sie nachts die Fürsten der Philister, während Samson in ihrem Schoße liegt, zu sich kommen und seine Locken abschneiden. Ihm werden die Augen ausgestochen und er wird gefesselt hinab ins Gefängnis nach Gaza geführt.
Thema der Oper von Camille Saint-Saëns ist der durch Samsons Erscheinen beginnende Aufstand der Hebräer, der Polytheismus der Philister und der Verlockung Samsons durch Dalila. Im Gegensatz zur biblischen Überlieferung ist die Figur der Dalila hier als eine Priesterin des Dagon angelegt; nicht die Bestechung durch die Philister führen zum Verrat Samsons, sondern ihre Zugehörigkeit zum gegnerischen Volk. Im letzten Akt der Oper lässt Samson, wie auch im Buch der Richter beschrieben, in einem letzten Kraftakt die Säulen eines Tempels über sich einstürzen und reißt 3000 Philister mit in den Tod.
Ort und Zeit der Handlung: Gaza, Palästina, 1150 v. Chr.
Die Kieler Inszenierung
Als Tänzerin, die für die Inszenierung an der Kieler Oper engagiert wurde, war ich bei Probenbeginn auf die künstlerische Umsetzung des Stückes gespannt. Denn, so steht es auch im Programmheft der Oper Kiel: „Thematische und musikalische Rätsel faszinieren an diesem Stück, das dazu auch noch die Aufgabe stellt, zwei moralisch fragwürdige Titelfiguren in all ihrer Brüchigkeit auf die Bühne zu stellen – im Rahmen eines interkulturellen Konfliktes, dessen Nachwirkungen bis heute spürbar sind.“[2]
Seit der Premiere zeigen wir schließlich ein Stück, dass mich zutiefst mitnimmt Dalila (Tatja Jibladze); Foto: Olaf Struck
Fernab der biblischen Erzählung konzentrieren sich Regisseur Immo Karaman und Choreograph Fabian Posca bei der Realisierung des Stückes auf die urmenschlichsten Gefühlsregungen wie Trauer, Wut, Rache, Liebe, Begehren und Verzweiflung; verzichten – bis auf Tisch, Stühle und fünf Schränke - auf Requisiten, und schaffen mit puristischen Kostümen und spartanischem Bühnenbild, alles ausschließlich aus schwarz und weiß bestehend, eine neutrale, zeitlose Plattform, auf der überzeitlicher Ausdruck durch die Intensität der Solisten, des Chores und der Tanzenden direkt zum Publikum findet.
So wie Saint-Saëns als Komponist eine musikalische Ausgewogenheit bezüglich der sich gegenüberstehenden, biblisch verfeindeten zwei Völker schafft (anders, als Libretto und Bibelverse eher vorgeben) und damit dem Zuhörer kein absolutes Meinungsbild vorgibt, werden im Schwarz-Weiß des Bühnenbildes Reaktionen auf Aktionen hör- und sichtbar, ohne die sich entwickelnden katastrophalen Geschehnisse eindeutig zu bewerten. Darin politisch eingebettet, entwickelt sich die kurze und tödliche Liebesgeschichte von Dalila und Samson. Moralische Be- und Verurteilung ihrer Taten ist durch Dalilas Ablehnung des Bestechungsgeldes und die Gefühlsintensität ihrer Arie „Mon coeur s‘ouvre à ta voix“ eben so wenig eindeutig möglich, wie durch Samsons Preisgabe seines Geheimnisses, des existentiellen Verlusts seiner Kraft durch die Geliebte Dalila und des Augenlichts nach der Folter durch die Philister. Als Selbstmordattentäter rächt er sich schließlich an Frau und Volk und zieht Tausende mit in den Tod.
Samson (Andeka Gorrotxategi), Opern- und Extrachor, Tänzer*innen; Foto: Olaf Struck
Eine extrem aktuelle Tragödie
Das tragische Ende der Oper lässt in der Kieler Inszenierung das Publikum ohne Gewissheiten oder Antworten zurück, als vielmehr mit einer Information, die als Schriftzug auf dem Vorhang erscheint: „3000 Tote, darunter der Attentäter“. Diese Anzahl von toten Philistern wird in der Bibel genannt – diese Anzahl von Toten kann aber auch für den Terroranschlag auf die zwei Türme des World Trade Centers in den USA stehen.
Vor dem Hintergrund der grausamen Geschehnisse der letzten Wochen können wir sinnbildlich nicht nur von einer zeitgenössischen, sondern von einer extrem aktuellen Tragödie sprechen, die in Kiel ihren Ausdruck findet.
[1] Siehe dazu: Weibermacht und Männerherrschaft, in: Des Menschen Gemüt ist wandelbar. Druckgrafik zur Dürer-Zeit, Hrsg. U. Kuder / D. Luckow, Kunsthalle Kiel, 2004;
[2] Ulrich Frey, Schattenrisse der Seele. Saint-Saëns als unparteiischer Erzähler in „Samson und Delila“, Hrsg. Theater Kiel, Programmheft Spielzeit 2023/2024.