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Die Kieler Gebäranstalt des 19. Jahrhunderts als Spiegel medizinischer und sozialer Herausforderungen.

Verfasser:  Ibrahim Alkatout und Christian Hoffarth

Verlag: Solivagus Präteritum, Kiel 2023,  472 Seiten,  € 28,00

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In der Medizin- und Pharmaziehistorischen Sammlung der Christian Albrechts Universität Kiel kann man einen Schrank bestaunen mit Beckenknochen von Frauen, die im 19. Jahrhundert in der Kieler Gebäranstalt niederkamen und die Geburt ihres Kindes nicht überlebten.

Die Autoren, Prof. Dr. Ibrahim Alkatout, Geburtshelfer und Gynäkologe an der CAU und Dr. Christian Hoffart, Historiker an der CAU, haben sich die Frage gestellt, wer waren diese Frauen, deren Becken in dem Schrank gesammelt sind, was war ihr Schicksal und warum starben sie. Daran haben sie die Entwicklung der universitären Geburtsheilkunde (nicht nur in Kiel) und vor allem die Schwierigkeiten, die sich dabei auftaten, bis in unsere Zeit dargestellt.

Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts war Geburt vor allem eine Sache unter kundigen Frauen. Dann begann der Einfluss der Mediziner langsam auf das Geburtsgeschehen zu wachsen. Die Geburt wurde aus der rein häuslichen Sphäre zu Teilen nach außen verlagert. Es entstanden die Vorgänger der späteren Frauenkliniken, die Gebärhäuser, mit ärztlicher Betreuung. Sie waren keine privilegierten Einrichtungen für die oberen Schichten, sondern genau das Gegenteil. Sie waren zu einem großen Teil Einrichtungen der sozialen Fürsorge der Städte und Gemeinden, die die Kosten der Entbindung für die Ärmsten übernahmen, wenn diese bei ihnen vorstellig wurden.

Per Gesetz war um 1800 diese Art  Armenfürsorge in Teilen Europas geregelt worden. Schleswig-Holstein gehörte damals zum Königreich Dänemark und unterstand damit dem Dänischen Recht, wo die Heimatkommunen die Kosten der Armenpflege zu übernehmen hatten. Die armen Frauen kamen aus den untersten sozialen Schichten der Bevölkerung. Ihre Eltern und Vorfahren waren Land- und Besitzlose in einer Gesell
schaft, in der es so gut wie keine sozialen Aufstiegschancen  gab. Ihre Kindheit war meist durch Armut und Hunger geprägt, wodurch Mangel- und Fehlernährung weit verbreitet waren, was die körperliche Gesundheit, vor allem auch den Knochenbau beeinflusst hatte. Rachitis war weit verbreitet. Aber man kannte noch nicht - und später nur eingeschränkt - die Ursachen dieser Mangelkrankheit, weswegen man auch nicht gegensteuern konnte. Innerliche und äußerlich sichtbare Knochenverformungen waren daher weit verbreitet. Für eine Gebärende war das ein riesiges Problem. Rachitis in jungen Jahren führte u.a. zu verengten Becken und missgebildeten Geburtskanälen, die eine natürliche Geburt meist unmöglich machten.

Außerdem hatten erst wenige, ausgehend von Prof. Semmelweiss in Wien, in den 1840er Jahren die Bedeutung von Sepsis und Antisepsis im Allgemeinen und im Geburtsvorgang im Besonderen erkannt, d.h. die Gefahren von Bakterien und Viren waren bis dahin unbekannt. Hygiene spielte keinerlei  Rolle. Das sogenannte Kindbettfieber grassierte. Es dauerte noch mehrere Jahrzehnte bis auch die letzten medizinischen Skeptiker diese Hygiene-Problematik anerkannten, was noch weiterhin viele Menschenleben im Gesamten und viele Frauen- und Kinderleben im Einzelnen kostete, auch in der Kieler Gebäranstalt. Dadurch waren Kaiserschnitte, die man schon lange praktizierte, meist tödlich. Das besserte sich auch in Kiel erst, als in den 1880er Jahren strenge Hygienemaßnahmen eingeführt wurden. Wirkungsvolle Medikamente  dagegen gab es erst seit der Erfindung des Penicillin 1928, das aber erst ab den 1940er Jahren wirklich zum Einsatz kam.

Bei den komplizierten Geburten auf Grund zu enger Becken  entschied der leitende Mediziner des Gebärhauses mehr oder minder nach Gutdünken, denn wissenschaftliche Grundlagen fehlten noch lange, ob er bei einer komplizierten Geburt, Mutter oder Kind retten wollte. Meist starben aber, vor allem auch als Folge des Kindbettfiebers, beide. Die Todesrate war sehr hoch.

DiBeckenschrank 20231127 174055 resized 1esem Umstand verdankt die Medizin- und Pharmaziehistorische Sammlung der CAU ihre Becken, von denen 31 in einem alten Schrank erhalten sind. Bevor die toten Frauen begraben wurden, entnahm man ihnen ihre Becken und nutzte sie  für die angehenden Mediziner und Hebammen als Anschauungs- und Übungsmaterial.

Von 14 dieser Becken konnten die Autoren die Lebensläufe der dazugehörenden Frauen erkunden. Die Maße der Becken gaben ungefähre Auskunft über Größe, Gewicht und Gesundheitszustand der Verstorbenen. Da die Frauen bei ihrer Aufnahme in das Gebärhaus genau über viele Einzelheiten wie Herkunft, Schwangerschaften, Alter und Leben, befragt wurden, was akribisch aufgeschrieben wurde und erhalten ist, konnte man zusätzlich auch in den Kirchenbüchern der Heimatgemeinden weiter suchen. Auch hatten ja alle Frauen, die in das Gebärhaus zur Entbindung wollten, eine Einweisung entweder ihrer Gemeinde oder zumindest vom Pastor vorzuweisen und wenn vorhanden auch  ihre Arbeitsbücher, in denen eingetragen war, bei wem sie wie lange in den vorausgegangenen Jahren gearbeitet hatten. Alles zusammen ergab mehr oder minder detaillierte  Auskunft über Herkunft und Leben der Frauen.

Verbunden mit den aufgezeigten Erkenntnissen der medizinischen Entwicklungen im 19. Jahrhundert schaffen die Autoren ein abgerundetes Bild mit viel Erkenntnisgewinn, vor allem für den medizinischen Laien.

Wer z.B.  schon einmal Ahnenforschung betrieben hat, wird auch auf diesem Gebiet über die reinen Fakten des Buchthemas hinaus Erkenntnisgewinne haben: Z.B. warum so viele Mütter früher nicht nur bei der ersten Geburt starben, sondern häufig erst bei einer späteren. Oder welchen Status überlebende Kinder nach dem Tod ihrer Mütter hatten, vor allem wenn ihre Mütter ledig gewesen waren und sie nicht von einer Familie aufgefangen wurden.

Man erfährt etwas über die soziale Lage, von ledigen Müttern im 19. Jahrhundert, ihre Beschäftigungsverhältnisse vor den Schwangerschaften, dass sie meist arbeitslos wurden, sobald ihr Arbeitgeber von der Schwangerschaft erfuhr und dass es häufig die Pastoren waren, die ihnen mit Ausstellung von Taufscheinen halfen, einen Entbindungsplatz in der Gebäranstalt zu erhalten und so die Heimatgemeinde für die Kosten aufzukommen hatte.

470 Seiten, die sich lohnen zu lesen!

                                                                                                                             Dr. Vera Gemmecke-Kaltefleiter

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