Catherine Keller
Über das Geheimnis
Gott erkennen im Werden der Welt.
Eine Prozesstheologie
Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2013, Neudruck 2020
Ist "Werden" das primäre Grundprinzip des Universums und aller Existenz, nicht "Sein"? Das ist die Grundidee des Prozessdenkens, die Alfred N. Whitehead entwickelt hat. Vielfältig untereinander vernetzte Prozesse mit unbestimmtem Ende bilden zusammen das Universum. Eigenschaften, Zustände sind Voraussetzungen und Ergebnisse von Ereignissen in Prozessen, und sie können daher definitionsgemäß nicht dauerhaft sein.
Was auf den ersten Blick als nicht ganz neu erscheinen könnte, führt in seiner Anwendung auf die Theologie zu ungewohnten Einsichten und Folgerungen. Denn es gibt keinen Bereich, der von Veränderung ausgeschlossen ist. Somit kann es in dieser Denkweise weder absolute Wahrheit, noch einen unwandelbaren Gott geben. Diese Theologie, die von einer "Welt im Werden" spricht, hat auch Raum für die Erkenntnisse moderner Naturwissenschaften.
Unter dem Titel " Über das Geheimnis - Gott erkennen im Werden der Welt" breitet Catherine Keller (geb. 1953), Professorin für "Constructive Theology" an der Drew University (New Jersey), die Grundlagen dieser Prozesstheologie aus. Schlüssig und überzeugend führt sie in einer lebensnahen und kreativen Sprache die Anwendung des Prozessdenkens vor. Sie belegt ihre Darlegungen mit zahlreichen Zitaten von Frauen und Männern aus allen Bereichen, Zeiten, Religionen und Konfessionen. Es ergeben sich ungewohnte Blicke auf bekannte Bilder und Texte, wie die Schöpfungsgeschichte der Bibel, aber auch auf traditionelle Riten, Formeln und Regeln und zwingt auf diese Weise dazu, über die eigenen Überzeugungen neu nachzudenken.
Für Prozesstheologen ist Gott ein lebendiger Prozess der Interaktion, dessen Ursprung nicht erkannt werden kann und dessen Ende offen ist. Gott "geschieht". Prozesse kann man nicht besitzen, nur erleben, an ihnen teilhaben. Ein derartiges Gottesbild ist von seinem Wesen her nicht patriarchal, ungeeignet zur Rechtfertigung von Machtansprüchen.
Über Menschen schreibt Keller, "....,dass wir als Geschöpfe nicht mehr und nicht weniger sind als offene Prozesse der Interaktion. Wir existieren nicht getrennt von unseren Beziehungen." (S. 213)
Nicht als Gebot, sondern konstitutionell besteht daher eine Verantwortung für andere Menschen und für die gesamte Schöpfung.
Gott ist mit allen seinen Geschöpfen verbunden, sieht sie, fühlt und leidet mit ihnen, hat eine "Mit/Leidenschaft" (com/passion) für sie. Um die Welt nach seinem liebenden Willen zu gestalten, lockt Gott seine Geschöpfe zu liebender Fürsorge für alle Mitgeschöpfe, aber er/sie zwingt sie nicht.
Kellers Ausführungen entfalten eine umfangreiche, kompetente und leidenschaftliche Auslegung christlicher Theologie als Prozess. Dabei wird die Möglichkeit anderer Religionen und Weltanschauungen nicht ausgeschlossen. Statt nach absoluter Wahrheit sucht sie nach "resolutem" Zeugnis, nach Entscheidungen und Taten. In einer Welt, in der sich alles in steter Veränderung befindet, ruft sie in biblischer Tradition dazu auf, das "jetzt" zu nutzen.
In diesem Buch erlebt man Catherine Keller persönlich und authentisch, eingängig und lebendig, in einer Sprache, die im Original noch kreativer erscheint. Ihre gewaltfreie Theologie ist nicht unverbindlich, sondern klar in ihren Forderungen – human, ökologisch, feministisch, christlich.
Immer wieder zeigt sie auch Grund zu Hoffnung und positiver Weltsicht in einer Welt der ständigen Veränderungen.
Dr. Gerda Thieler-Mevissen